Scroll down for english version.
 

Speere Stein Klavier (2016)
Musiktheater

Vor dem Verwaltungsgebäude der GEMA in München thront der Erich-Schulze-Brunnen: eine riesige, glänzende Tuba aus Messing. Darunter, im Verborgenen unter den Pflastersteinen, liegen die Trümmer des Bürgerbräukellers: Überreste eines missglückten Attentats auf den »Führer«.

Die archäologische Spurensuche – eine Expedition durch den Schalltrichter – bringt verschüttete Artefakte ans Licht; Objekte der Geschichte Münchens seit 1933: Tondokumente, Grundrisspläne, Modellbauten, Weißbier, Granitplatten. Die Fundstücke werden klassifiziert und einander zugeordnet. Carl Orffs »Einzug und Reigen der Kinder« für Olympia 1936 findet eine Entsprechung im »Gruß der Jugend« für Olympia 1972; Werner Egks »Marsch der deutschen Jugend« von 1941 steht seinen »Variationen über ein karibisches Thema« von 1959 gegenüber.

Doch das analytisch-nüchterne Vorhaben gerät aus dem Ruder: Die Fragmente entwickeln ein Eigenleben, unerwartete Widersprüche und Kontinuitäten treten zutage – die ausgetriebenen Geister werden sichtbar. Sie sind der gefilterte, geleugnete Teil eines historischen Zusammenhangs.

Regie: Christian Grammel, Bühne / Kostüm:Yassu Yabara, Dramaturgie: Elisabeth Tropper, Musikalische Leitung: Domonkos Héja

 

Speere Stein Klavier (2016)
Music-theatre

The Erich Schulze fountain towers in front of the administrative building of GEMA in Munich: a giant, shining tuba made of brass. Under it, hidden under cobblestones, is the debris of the Bürgerbräukeller beer hall: the remains of a failed attempt to assassinate the »Führer«.

The archeological search for traces – an expedition through the horn – brings buried artifacts to light, objects from Munich's history, in particular after 1933: sound documents, blueprints and layout plans, models, wheat beer, granite slabs. Three men – are they father, son, and grandfather? – start working to classify the found objects and assign them. Carl Orff's »Reigen und Einzug der Kinder«, composed for the Olympics in 1936, finds a counterpart in »Gruss der Jugend«, composed for the Olympics in 1972 – Ralph Maria Siegel's post-war feel good hit is compared to his song »Schlager ABC« from 1942.

The analytical, sober undertaking gets more and more out of control: the fragments develop an independent existence, unexpected contradictions and continuities come to the surface – the exorcised spirits become visible. They are the filtered, repudiated part of a historic connection.

 

Komposition III: Crazy, total verrückt
In einem bundesrepublikanischen Wohnzimmer der Nachkriegszeit wechselt die Stimmung der Familie zwischen Gemütlichkeit, klamaukiger Nonsens-Unterhaltung, verniedlichender Aufbereitung der Vergangenheit und Retraumatisierung.

Irgendwo unter dem Münchener Gasteig und der Gema-Zentrale, in einem Raum zwischen Archiv, Bunker und Partykeller arbeiten sich fünf Akteure seit einer gefühlten Ewigkeit durch einen Berg aus Akten, Dokumenten, Kunstgegenständen, Schellackplatten. Karteikarten mit den Objektnamen werden verlesen - die Objekte werden vorgeführt. Objekt 1, Objekt 2, Objekt 3, ....

Komposition I: Die Fälschung unsrer Kunst
In der Komposition "Die Fälschung unsrer Kunst" kommt es zu einer Verdichtung von gegeneinander gelesenen Texten. Wagners "Über das Judenthum in der Musik" und Carl Orffs "Musik zum Sommernachtstraum. Ein Bericht". In beiden Texten erklären die ehrgeizigen und konkurrenzbewussten Komponisten, warum der Komponist Mendelssohn-Bartholdy trotz höchstem Könnens angeblich nicht in der Lage sei am Kern des (deutschen) Empfindens zu rühren. Über offenen oder subtileren Antisemitismus versuchen die Komponisten sich einen Vorteil gegenüber der ungeliebten Konkurrenz zu verschaffen.
Zu den verschiedenen Passagen mit Orffs und Wagners Texten komponierte der Komponist Genoël von Lilienstern Musik die jeweils dem Stil des gerade zitierten Komponisten entspricht. Dabei wird auch deutlich, dass Wagners Musik große, stilistische Nähe zu der Mendelssohn-Bartholdys vorweist.

Münchener Biennale 2016 Komposition: Genoël von Lilienstern, Regie: Christian Grammel, Bühne: Yassu Yabara, Dramaturgie: Elisabeth Tropper

Komposition II: Krieg & Kühe
Chor-Vokalisen aus Carl Orffs "Carmina Burana" bilden die Grundstimmung für einen Bombenangriff auf die Stadt München. Die Dialoge während dieser Situation sind dem Propagandafilm "Stukas" (1941) entnommen. In folge dieser Ereignisse wird Max, ein junger Soldat, schwer traumatisiert. Er beginnt sein Umfeld in ein angenehmes Bergidyll umzuinterpretieren und die verstörenden Bilder verschwinden zu lassen. In einer Rückschau beschreibt er, wie er auf dem Weg in die Kriegsgefangenschaft seine zukünftige Frau kenne gelernt hat. Diese Erzählung ist dem Bildband "Margot und Marianne Hellwig / Servus, Grüezi und Hallo - Ein Deutschlandreiseführer" entnommen.